Die Tage, an denen Makani auf dem Trockendock stand, vergingen wie im Flug. Während die Jungs die kompletten drei Schwimmer abschliffen und neue Farbe anbrachten, kümmerte ich mich um die Innenausstattung des Schiffs. Der Salon, die Küche und die Kojen waren teilweise komplett mit Material ausgelegt. Teilweise waren die Sachen zum entsorgen, zum verstauen oder. zur Reparatur. Viel Material musste auch zum Trocknen heraus gekramt werden, da vieles aufgrund der Luftfeuchtigkeit und der vielen Regenfälle im Begriff war Schimmel anzusetzen. Zeitweise konnte man kaum im Innern des Schiffs einen Fuss vor den anderen setzen. Der Weg in die Schlafkojen glich mehr einer Bergwanderung.

Die Daunendecken wichen Leintücher und die dicken Neopren, Ölzeug und Winterklamotten wurden in Kisten verpackt und in die untersten Bilgenräume verstaut. Diese würden wir so schnell hoffentlich nicht wieder benötigen, wenn überhaupt. Es war nicht gerade das erklärte Ziel der Makani-Crew in kältere Regionen zurück zu kehren. Zumindest nicht so schnell. Mittlerweile erfreuten wir uns an den angenehmen rund 30 Grad Tagestemperaturen.
Auf diese Temperaturen würde sich sicher auch Nicolai schon freuen. Schon bald würden wir ihn nämlich in Martinique am Flughafen abholen. Mit ihm würden wir hoffentlich ein paar gemütlichere Wanderungen unternehmen und auch endlich ein paar Inseln in den Süden segeln. Mit kurzen Badestops ging's fast schnurstracks zur Insel Mustique, welche zu St. Vincent und den Grenadinen gehörte. Der traumhafte weisse Sandstrand mit den Kokospalmen lud regelrecht ein, diese mit den Füssen im Meer abzulaufen.

Doch unsere Freude im Paradies dauerte nur kurze Zeit. Die Security dieser leider Privatinsel für reiche Schnösel hatte uns nämlich bereits im Visier und wies uns etwas forsch an, sofort die Örtlichkeit zu verlassen. Zumindest das Boot der Wachmänner begleitet uns wie Stars noch weit hinaus aufs offene Meer.
Es blieb uns also nichts anderes übrig, als bis zur nächsten Insel weiter zu segeln.
Union Island und seine Tobago Cays! Auf diese Inseln freute ich mich, denn diese waren für mich als Kitesurferin schon lange auf der Wunschliste meiner Traumdestinationen. Martin steuerte die vorgelagerte Insel, Palm Island, an. Kaum angekommen, liessen Martin und Ronin das Dingi auch schon ins Wasser gleiten. So brauste der Captain mit Nicolai und mir in Richtung Dingidock auf, die mit vielen farbigen Häusern verzierten, Hauptinsel zu.
Gleich nach unserer Ankunft wurden wir von den Einheimischen eingekreist. Jeder schien uns etwas verkaufen zu wollen. So marschierten wir, ihrem Drängen folgend, bis zur Dorfmitte, wo ein buntes Treiben an Holzhäuschen stattfand. Die einheimische Meute folgte uns wie ein Rudel Hunde auf Schritt und Tritt. Wir schlenderten durch den Wochenmarkt und hielten Ausschau nach brauchbaren Esswaren. Die an den Verkaufsständen stehenden Big Mama’s präsentierten uns stolz ihre selbst gezüchteten Früchte und Gemüse. Stolz war auch der anschliessend verlangte Preis für die Handvoll Früchte, die wir am Ende kauften. Der Preis belief sich mindestens auf das Doppelte welchen wir bisher zahlen mussten. Karibik halt. Da mussten wir wohl zuerst lernen, wie man mit den Einheimischen feilschte.

Mit dem Notwendigsten an frischem Proviant segelten wir schon bald los mit Kurs auf die Tobago Cays. Und kaum rasselte die Ankerkette, hörte man vom Heck des Schiffs wie Nicolai bereits mit einem Hechtsprung ins Wasser plantschte. Es schien perfekt! Die Wasserfarbe in Türkis und unter uns feinster Sand. Die Schildkröten welche um unser Boot kreisten konnte man von Deck aus kaum zählen. Ebenfalls zeigte die Windanzeige bei der Navstation genug, dass ich sofort meinen 11er Kite aus dem Stauraum holte. Mit Hilfe von Martin und Ronin klickten wir ihn anschliessend hinter dem Boot startklar an die am Boot befestigte Leine.
Ronin startete unterdessen seinen Wing und fuhr, gefolgt von Martin und Nicolai im Dingi hinaus zu dem kleinen vorgelagerten Riff. Sie wollten dort eine kleine Fotosession machen und ein paar Videos drehen.

Ich hatte die komplette Lagune also für mich alleine. Was für ein Traum! Ich fuhr die Lagune rauf und runter, machte meine Manöver und Sprünge bis mir die schliesslich die Kraft ausging. Es war unglaublich schön. Ein Blick in Richtung Riff bestätigte mir, dass ich wohl kein Erinnerungsfoto von den Tobago Cays bekommen würde. Die Jungs schienen die Zeit vergessen zu haben. Ein wenig, meine aufkommenden Enttäuschung unterdrückend, fuhr ich noch eine Weile meine Bahnen. Langsam wäre es schön, wenn die mal zurückkommen würden, um mir mit der Landung des Kites zu helfen, dachte ich mir. Dies war auf einem Boot nicht gerade die einfachste Übung. Als ich mich in Richtung Makani umdrehte, sah ich das rote T-Shirt von Ronin im Wasser, welcher auf dem Wingfoilboard ebenfalls in Richtung unserer Segelyacht paddelte. Er gestikulierte mit den Händen und deutete auf den Horizont. Seinem ausgestreckten Arm mit meinen Blicken folgend sah ich seinen Wing gerade noch, wie dieser weit weg hinter den Wellen verschwand. Während ich mit dem Kite nun dem Wing zuerst hinterherfuhr, fragte ich mich zeitgleich, warum denn Martin mit dem Dingi nicht dem Wing hinterhergefahren war. Ein paar hundert Meter weiter ging dem Wind nun aber die Puste aus, was mich dazu veranlasste den Wing davonschwimmen zu lassen. Auch wenn ich ihn eingeholt hätte, es wäre fast unmöglich gewesen, diesen dann mit dem Kite zum Boot zurück zu schleppen.
Ronin hatte mittlerweile auf dem Schiff einen weiteren Wing aufgepumpt und flitzte auf dem Foilboard seinem Ausreisser-Wing hinterher. Ok, das war nicht gut. Da stimmte wohl etwas gewaltig nicht. Ich fuhr mit meinem Kite zurück zur Makani. Zum Glück hatten wir im Heck die kleinen, orangen Kugelfender mit den Karabinerhaken ins Wasser gelassen. Ich steuerte meinen Kite aufs Wasser und packte mit der Hand nach dem Karabiner um den Kite einzuhaken.
Zurück auf dem Boot suche ich mit dem Feldstecher die Riffkante ab und erkannte Nicolai im Dingi sitzend. Wo war Martin? Ein mulmiges Gefühl kam in mir auf und eine kleine Panik fing sich an in meiner Magengegend breit zu machen. Was ist passiert? Da ich mir generell zu schnell und vor allem zu viele Sorgen machte, konnte es gut sein, dass nichts Schlimmes passiert war. Doch irgendetwas stimmte nicht. Ich zog die Leine mit den Fendern aufs Schiff und hievte den Rest unserer schwimmenden Spielzeuge der Reihe nach aufs Heck. Kiteboard, Kitefoilboard, Wingfoilboard und SUP’s Landenten im Eiltempo hinten auf dem Heck. Nachdem ich auch meinen Kite auf dem Daybed verstaut hatte, schaute ich schliesslich doch noch auf den Kartenplotter und sah mir die Umgebung ein wenig genauer an. Mit Makani konnte ich unmöglich bis zum Dingi zu fahren, da wir von Untiefen und den Riffen umgeben waren. Und vom Ankerplatz hätte ich eine viel zu weite Strecke fahren müssen, um das Riff zu umfahren. Was jetzt? Ich überlegte. Ah, der Funk! Klar, ich würde auf Kanal 16 mal versuchen Hilfe anzufordern.
Da ich bisher noch keine Funkausbildung auf dem Meer gemacht hatte, kam mir in diesem Moment lediglich die Worte ‚Mayday’ in den Sinn. Mayday war etwas, das man absetzte, wenn Personen in Lebensgefahr waren. Doch konnte ich mir sicher sein ob das nicht der Fall war? Martin hatte ich bisher noch nicht entdecken können. Ich hatte keine Ahnung was passiert war. Ich war hin und her gerissen was denn nun am Angebrachtesten erschien. Jemand musste mir definitiv helfen und ich wusste nicht was draussen beim Dingi los war. In meinen Augen war dies ein halbes ‚Mayday‘ wert. So betätigte ich die Sendetaste am Funk und sprach auf Englisch: „Mayday, ich glaube ich habe hier ein Mayday. Ich bin mir aber nicht wirklich sicher, aber vielleicht ist es ein tatsächlich ein Mayday. Kann mir jemand vielleicht helfen? Ist gerade zufälligerweise jemand in der Nähe der Tobago Cays?“ Die männliche und etwas genervte Stimme ertönte sofort am anderen Ende. „ Wo befindet ihr euch?“ Tja, das war mal einfach zu erklären! „Wir sind das einzige Segelboot, welches vor dem Riff ankert. Es ist ein Trimaran. Du kannst uns nicht verfehlen“. Noch genervter kam der Kommentar des Mannes entgegen. „Da solltet ihr aber nicht sein, das ist gefährlich!“ Ich konnte den Mann und seine Sorgen um uns ebenfalls gut verstehen. Wäre ich noch vor ein paar Monaten 100% ig seiner Meinung gewesen, kannte ich mittlerweile meine Crew einiges besser. Ich wusste, dass wir nur an Plätzen ankerten, an welchen es zwar manchmal ein wenig schaukelte wegen den Wellen, aber trotzdem immer ein sicherer Ankerplatz war. Konnte sein, dass dies auch nur an Martin's Spezial-Anker lag oder den vielen Metern Kette, welche wir immer auf den Sand legten.
Kaum hatte der Mann seine letzten Worte gesprochen sah ich bereits ein grosses Holzboot mit einem überdimensionierten Motor um die Inselecke brausen. Der Mann kam auf Makani zu und ich hüpfte ungefragt zu ihm auf das Taxiboot. „Ich muss zu unserem Dingi. Da stimmt etwas nicht.“ erklärte ich ihm. Gemeinsam ging’s im Schnellzugtempo in der, mit 150PS bestückten, Nussschale über die Wellen. Schon von Weitem konnte ich Nicolai mit dem weissen Paddel winken sehen. Wo war Martin?
„Nicolai, was isch passiert? Wo isch de Martin?“ fragte ich bereits sichtlich nervös. Nicolai sah mich an und meinte nur: „Am schnorcheln.“ Sein käseweisses Gesicht sprach Geschichten. Irgendetwas musste geschehen sein.
Entnervt schrie der Taxibootfahrer mir zu, was denn nun los sei. Ich zuckte mit den Schultern und schaute vom Taxifahrer zu Nicolai und weiter auf das Riff hinaus. Da endlich sah ich Martin schnorchelnd auf uns zukommen. Eilig schien er es dabei nicht zu haben. Immer wieder tauchte er nach unten und verschwand aus meinem Blickfeld. Als er endlich bei mir war, erhoffte ich mir eine etwas schlüssigere Antwort von meinem Captain. Trocken meinte er nur: „Ich sueche no de Anker.“. Ich verstand nur Bahnhof. Da tauchte Martin auch schon mit dem Seil unseres Dingi ab und band es an den Korallen fest. Am anderen Ende befestigte er eine leere 5dl Colaflasche welche ich im Boot des Taxifahrers liegen sah. Ich reimte mir mal zusammen, dass unser Dingi sich nicht mehr starten liess. Doch weswegen Martin nach dem Anker tauchen wollte, war mir schleierhaft. Ich befestigte das Dingi mittels eines Stahlkabels an die Nussschale des Taxifahrers. „Chunnsch au mit zrugg ufs Boot oder was machsch jetzt?“, fragte ich Martin erneut. Über die genauen Umstände musste ich weiter Rätsel raten. „Ich mues na chli schnorchle. Es fehlen na es paar Sache.“ , meinte Martin, welcher meinen fragenden Blicken auswich, indem er ein weiteres Mal abtauchte.
Ich schleppte also vorerst Nicolai im Dingi sitzend mit dem Taxibootfahrer zurück zur Makani. Wortlos entstieg Nicolai dem Dinig und ging schnurstracks zum Kühlschrank. „Ich brauch jetzt erstmal ein Bier!“ meinte er leise und setzte sich auf den nächstbesten Sessel. Nachdem er die Flasche schluckweise getrunken und seine Sprache wiedergefunden hatte, erklärte Nicolai: “Die Welle hat das Dingi gedreht und dabei ging alles über Bord. Flossen, Taucherbrillen, Schnorchel, die Dingi-Sitzbank, der Anker… und auch Martin’s iPhone. Wir versuchten halb blind die Sachen unter Wasser wieder zu finden und hatten endlich eine Taucherbrille. Und du glaubst es nicht, Denise. Dann war da dieser Hai! Ich dachte mir in dem Moment nur noch ‚Sorry Martin, aber es gibt für alles Versicherungen!!!‘ Und dann hab ich mich ins Dingi gesetzt." Innerlich ein wenig schmunzelnd konnte ich Nicolai komplett nachempfinden. Ich hätte wohl dasselbe gemacht in seiner Situation.
Im selben Augenblick sah ich ein fremdes Dingi Kurs auf Makani nehmen. Darin befanden sich zwei Männer und Ronin, welcher seine zwei Wings in die Höhe hielt.
Ich war froh, dass nun wenigstens auch Ronin heil zurück auf dem Schiff war. Doch als Erstes packten Ronin und ich das noch verfügbare Schnorchelgequipment unter der Sitzbank hervor und fuhren mit den beiden fremden Männern mit ihrem Dingi zurück zum Riff, an welchem Martin immer noch vor sich hin schnorchelte. Von Weitem konnte ich seinen nach oben gestreckten Arm ausmachen. In der Hand sein iPhone haltend. Das war ja klar! Martin’s Glück schien ihn nicht verlassen zu haben. War es doch sicher schon das dritte Mal, das er seinem Mobiltelefon hinterher getaucht war. Doch hier mitten auf dem Riff, draussen auf dem Meer hätte ich nicht erwartet, dass er das noch einmal finden würde.
Hinter sich her zog Martin einen schweren Beutel. Darin befanden sich Anker und diverses Schnorchelmaterial. Grinsend meinte er, dass er fast alles gefunden habe. Mir war gar nicht zum Grinsen zumute. Und ich glaube, dass Martin wohl auch ausnahmsweise das Lachen vergangen wäre, wenn er gewusst hätte, was das flippen des Dingis noch alles für Folgen haben würde.

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